Eigenschaften/WirkungenATC-Code
L04AA40
Pharmakotherapeutische Gruppe
Selektive Immunsuppressiva.
Wirkungsmechanismus/Pharmakodynamik
Wirkungsmechanismus
Cladribin ist ein Nukleosid-Analogon von Desoxyadenosin. Eine Substitution durch ein Chloratom im Purinring schützt Cladribin vor dem Abbau durch die Adenosindesaminase, dadurch ist Cladribin als Prodrug intrazellulär länger verfügbar.
Anschliessend erfolgt die Phosphorylierung von Cladribin zum aktiven Triphosphat, 2-Chlordesoxyadenosin-5'-triphosphat (Cd-ATP), vornehmlich in den Lymphozyten, da diese im Vergleich zu anderen Zelltypen hohe Spiegel an Desoxycytidinkinase (DCK) und verhältnismässig geringe Spiegel an 5'-Nukleotidase (5'-NTase) aufweisen. Ein hoher Anteil von DCK im Vergleich zu 5'-NTase fördert die Anreicherung von Cd-ATP, was Lymphozyten besonders anfällig für Zelltod macht. Aufgrund des geringeren DCK/5'-NTase-Verhältnisses sind andere aus dem Knochenmark stammende Zellen weniger betroffen als die Lymphozyten.
Die Umwandlungsrate des Prodrugs Cladribin in sein aktives Triphosphat wird durch das Enzym DCK bestimmt, dadurch kommt es zu einer selektiven Reduktion von sich teilenden und nicht teilenden T- und B-Zellen.
Der primäre Apoptose-induzierende Wirkmechanismus von Cd-ATP hat direkte und indirekte Auswirkungen auf die DNA-Synthese und die Mitochondrienfunktion. In sich teilenden Zellen greift Cd-ATP in die DNA-Synthese ein, indem es die Ribonukleotidreduktase hemmt und mit Desoxyadenosin-Triphosphat um den Einbau in die DNA durch DNA-Polymerasen konkurriert. In ruhenden Zellen führt Cladribin zu DNA-Einzelstrangbrüchen, raschem Verbrauch von Nikotinamid-Adenin-Dinukleotiden, ATP-Mangel und Zelltod. Es liegen Hinweise vor, dass Cladribin auch direkt zur Caspase-abhängigen und -unabhängigen Apoptose führen kann, indem Cytochrom C und Apoptose-induzierender Faktor in das Zytosol von sich nicht teilenden Zellen ausgeschüttet werden.
Die Pathologie der MS beruht auf einer komplexen Abfolge von Ereignissen, bei denen verschiedene Immunzellen einschliesslich autoreaktive T- und B-Zellen eine Schlüsselrolle spielen. Der Mechanismus, durch den Cladribin seine therapeutischen Wirkungen bei MS entfaltet, ist nicht vollständig aufgeklärt, doch wird vermutet, dass durch seine vorwiegende Wirkung auf B- und T-Lymphozyten die Kaskade von Immunereignissen, die eine zentrale Rolle bei MS spielen, unterbrochen wird.
Unterschiede in der Expression von DCK und 5'-NTasen in den Immunzell-Subtypen erklären möglicherweise die unterschiedliche Empfindlichkeit der Immunzellen gegenüber Cladribin. Aufgrund dieser unterschiedlichen Expression sind Zellen des angeborenen Immunsystems weniger betroffen als Zellen des adaptiven Immunsystems.
Pharmakodynamik
Es wurde gezeigt, dass Cladribin eine lang anhaltende Wirkung bevorzugt auf Lymphozyten sowie auf die an der Pathophysiologie der MS beteiligen Autoimmunprozesse ausübt.
In allen Studien war der Anteil an Patienten mit Lymphopenie Grad 3 oder 4 (< 500 bis 200 Zellen/mm³ oder < 200 Zellen/mm³) in jedem Jahr zwei Monate nach der ersten Cladribin-Dosis am höchsten. Dies weist auf eine zeitliche Verzögerung zwischen den Plasmakonzentrationen von Cladribin und der maximalen hämatologischen Wirkung hin.
In allen klinischen Studien zeigte sich bei der vorgeschlagenen kumulativen Dosis von 3.5 mg/kg Körpergewicht ab der 84. Woche nach der ersten Cladribin-Dosis eine stetige Verbesserung der medianen Lymphozytenzahlen zu Normalwerten hin (ungefähr 30 Wochen nach der letzten Cladribin-Dosis). Die Lymphozytenzahlen erreichten bei mehr als 75 % der Patienten bis Woche 144 ab der ersten Cladribin-Dosis wieder Normalwerte (ungefähr 90 Wochen nach der letzten Cladribin-Dosis).
Die Behandlung mit oralem Cladribin führt zu einer raschen Verringerung der zirkulierenden CD4+ und CD8+ T-Zellen. Die Reduktion der Anzahl an CD8+ T-Zellen ist weniger stark ausgeprägt und ihre Zahl normalisiert sich schneller als die Anzahl der CD4+ T-Zellen, was zu einer vorübergehend geringeren CD4/CD8 Ratio führt. Cladribin verringert die Zahl von CD19+ B-Zellen und natürlichen Killerzellen (CD16+/CD56+), deren Anzahl sich ebenfalls schneller normalisiert als die der CD4+ T-Zellen.
Klinische Wirksamkeit
Schubförmig-remittierende MS
Die Wirksamkeit und Sicherheit von oralem Cladribin wurden in einer randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten klinischen Studie (CLARITY) an 1326 Patienten mit schubförmig-remittierender MS beurteilt. Studienziele waren die Beurteilung der Wirksamkeit von Cladribin im Vergleich zu Placebo hinsichtlich Verringerung der jährlichen Schubrate (ARR, annualised relapse rate) (primärer Endpunkt), Verlangsamung der Behinderungsprogression und Verringerung der gemessenen aktiven Läsionen im MRT.
Die Patienten erhielten während der 96wöchigen (2jährigen) Studienphase in 2 Behandlungsphasen entweder Placebo (n = 437) oder eine kumulative Cladribin-Dosis von 3.5 mg/kg (n = 433) bzw. 5.25 mg/kg Körpergewicht (n = 456). Patienten, die für die kumulative Dosis von 3.5 mg/kg randomisiert worden waren, erhielten eine erste Behandlungsphase in Woche 1 und 5 des ersten Jahres und eine zweite Behandlungsphase in Woche 1 und 5 des zweiten Jahres. Patienten, die für die kumulative Dosis von 5.25 mg/kg randomisiert worden waren, wurden im ersten Jahr zusätzlich in Woche 9 und 13 behandelt.
Die Mehrheit der Patienten in der Placebogruppe (87.0 %) und in den Behandlungsgruppen mit 3.5 mg/kg (91.9 %) bzw. 5.25 mg/kg (89.0 %) Cladribin beendeten die gesamten 96 Studienwochen.
Die Patienten mussten in den vorausgegangenen 12 Monaten mindestens 1 Schub aufweisen. In der gesamten Studienpopulation lag das mediane Alter bei 39 Jahren (Bereich 18 bis 65), und das Verhältnis von Frauen zu Männern betrug ungefähr 2:1. Die mittlere Dauer der MS vor Einschluss in die Studie lag bei 8.7 Jahren. Die mittels erweiterter Kurtzke-Skala gemessene neurologische Behinderung (EDSS, Expanded Disability Status Scale) betrug bei Studienbeginn in allen Behandlungsgruppen im Median 3.0 (Bereich 0 bis 6.0). Mehr als zwei Drittel der Patienten hatten zu Studienbeginn noch keine Behandlung mit verlaufsmodifizierenden MS-Arzneimitteln (disease-modifying drugs, DMD) erhalten. Die übrigen Patienten waren zuvor schon entweder mit Interferon beta-1a, Interferon beta-1b, Glatirameracetat oder Natalizumab behandelt worden.
Bei Patienten mit schubförmig-remittierender MS, die 3.5 mg/kg Cladribin erhielten, zeigten sich statistisch signifikante Verbesserungen hinsichtlich der jährliche Schubrate, beim Anteil von schubfreien Patienten über 96 Wochen, beim Anteil an Patienten ohne anhaltende Behinderungsprogression über 96 Wochen sowie bei der Zeit bis zur 3 Monate anhaltenden EDSS-Progression im Vergleich zu Patienten unter Placebo (siehe Tabelle 3).
Tabelle 3 Klinische Ergebnisse der CLARITY-Studie (96 Wochen)
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Parameter
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Placebo (n = 437)
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Kumulative Cladribin-Dosis
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3.5 mg/kg (n = 433)
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5.25 mg/kg (n = 456)
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Jährliche Schubrate (95 % -KI)
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0.33 (0.29, 0.38)
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0.14* (0.12, 0.17) p < 0.001
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0.15* (0.12, 0.17) p < 0.001
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Relative Verringerung (Cladribin vs. Placebo)
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57.6 %
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54.5 %
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Anteil von schubfreien Patienten über 96 Wochen
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60.9 %
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79.7 %
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78.9 %
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Zeit bis zur 3 Monate anhaltenden EDSS-Progression, 10. Perzentil (Monate)
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10.8
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13.6
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13.6
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Hazard Ratio (95 % -KI)
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0.67* (0.48, 0.93) p = 0.018
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0.69* (0.49, 0.96) p = 0.026
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* gegenüber Placebo
Darüber hinaus hat sich die Behandlungsgruppe mit Cladribin 3.5 mg/kg gegenüber Placebo hinsichtlich Anzahl und relativer Reduktion von T1-Gd+-Läsionen, aktiver T2-Läsionen sowie kombinierter Einzelläsionen als statistisch signifikant überlegen gezeigt, nachweisbar durch MRT des Gehirns über die gesamten 96 Studienwochen. Patienten unter Cladribin hatten gegenüber der Placebogruppe eine relative Reduktion der mittleren Anzahl von T1-Gd+-Läsionen um 86 % (angepasste Mittelwerte für die Gruppen unter 3.5 mg/kg Cladribin bzw. Placebo betrugen 0.12 bzw. 0.91), eine relative Reduktion der mittleren Anzahl von aktiven T2-Läsionen um 73 % (angepasste Mittelwerte für die Gruppen unter 3.5 mg/kg Cladribin bzw. Placebo betrugen 0.38 bzw. 1.43) sowie eine relative Reduktion der mittleren Anzahl von kombinierten Einzelläsionen um 74 % je Patient und Scan (angepasste Mittelwerte für die Gruppen unter 3.5 mg/kg Cladribin bzw. Placebo betrugen 0.43 bzw. 1.72) (p < 0.001 für alle 3 MRT-Befunde).
Eine Post-Hoc-Analyse der Zeitspanne bis zur 6 Monate anhaltenden, bestätigten EDSS-Progression ergab eine Reduktion des Risikos für eine Behinderungsprogression um 47 % unter 3.5 mg/kg Cladribin im Vergleich zu Placebo (Hazard Ratio = 0.53; 95 %-KI [0.36; 0.79]; p < 0.05). In der Placebogruppe wurde das 10. Perzentil nach 245 Tagen erreicht, während es in der Gruppe unter 3.5 mg/kg Cladribin innerhalb des Studienzeitraums nicht erreicht wurde.
Wie oben in Tabelle 3 gezeigt, führten höhere kumulative Dosen zu keinem weiteren klinisch relevanten Nutzen, waren aber mit einem vermehrten Auftreten von Lymphopenie Grad ≥3 (44.9 % in der Gruppe unter 5.25 mg/kg vs. 25.6 % in der Gruppe unter 3.5 mg/kg) assoziiert.
Patienten, die die CLARITY-Studie abgeschlossen hatten, konnten an der CLARITY-Verlängerungsstudie teilnehmen. Im Rahmen dieser Verlängerungsstudie erhielten 806 Patienten innerhalb der 96wöchigen Studienphase entweder Placebo oder eine kumulative Cladribin-Dosis von 3.5 mg/kg (das Behandlungsregime war mit dem der CLARITY-Studie vergleichbar). Das primäre Studienziel war die Sicherheit, während die Wirksamkeitsendpunkte explorativ waren.
Das Ausmass der Wirkung hinsichtlich der Reduktion der Schubhäufigkeit und Verzögerung der Behinderungsprogression bei Patienten, die über 2 Jahre eine Dosis von 3.5 mg/kg erhielten, blieb in den Jahren 3 und 4 erhalten (siehe Abschnitt «Dosierung/Anwendung»).
Wirksamkeit bei Patienten mit hoher Krankheitsaktivität
Post-hoc-Subgruppen-Analysen zur Wirksamkeit wurden bei Patienten mit hoher Krankheitsaktivität durchgeführt, die mit oralem Cladribin in der empfohlenen kumulativen Dosis von 3.5 mg/kg behandelt wurden. Darunter waren
·Patienten mit einem Schub im vorausgegangenen Jahr und mindestens einer T1-Gd+-Läsion bzw. 9 oder mehr T2-Läsionen während der Behandlung mit anderen DMDs,
·Patienten mit 2 Schüben oder mehr im vorausgegangenen Jahr, unabhängig davon, ob sie mit einer DMD behandelt wurden oder nicht.
Bei der Analyse der CLARITY-Daten wurde ein gleichbleibender Effekt der Behandlung bezüglich Schüben beobachtet, mit einer jährlichen Schubrate im Bereich von 0.16 bis 0.18 in der Cladribin-Gruppe und von 0.47 bis 0.50 in der Placebogruppe (p < 0.0001). Verglichen mit der Gesamtbevölkerung wurde ein grösserer Effekt hinsichtlich der Zeitspanne bis zur über 6 Monate anhaltenden Behinderung beobachtet, wobei Cladribin das Risiko für eine Behinderungsprogression um 82 % verringerte (Hazard Ratio = 0.18; 95 %-KI [0.07; 0.47]). In der Placebogruppe wurde das 10. Perzentil für eine Behinderungsprogression zwischen der 16. und 23. Woche erreicht, während es in den Cladribin-Gruppen innerhalb des gesamten Studienzeitraums nicht erreicht wurde.
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